L23 | Hertz, Harry | 07.10.1911 - 19.05.1934 |
Harry
Hertz
geb. 7.10.1911
gest. 19.5.1934
aus: Gisela Möllenhoff / Rita Schlautmann-Overmeyer, Jüdische Familien in Münster 1918 – 1945. Teil I Biographisches Lexikon, Münster ²2001
S. 193
HERTZ
Harry
7.10.1911 MS - 19.5.1934 MS
Wuchs Annenstr. 13 auf (1911 - 1934). Besuchte das Städt. Gymnasium und Realgymnasium bis zur Obersekunda und war anschließend von Ostern 1929 bis zum 1.9.1929 in der Kaufmännischen Handelsschule. Mit dem rückläufigen Pferdehandel und der wachsenden Motorisierung Ende der 1920er Jahre beschloß er, sich auf Autohandel und -reparatur zu spezialisieren. Ca. 1933 emigrierte er nach Spanien und arbeitete dort als Vertreter für die Fa. Opel. Nach erfolgreicher Etablierung hoffte er, seine Eltern nach dort holen zu können. 1934 erkrankte er und wurde auf schnellstem Wege nach MS zurückgeholt. Er verstarb in der Universitätsklinik am 19.5.1934, zwei Tage nach seiner Rückkehr. Sein Grab befindet sich auf dem jüd. Friedhof in MS.
S. 190-193
HERTZ
Hugo
16.9.1875 Coesfeld - 21.6.1937 MS
E: Salomon Hertz (2.5.1863 Coesfeld - 7.7.1909 Coesfeld) und Lisette geb. Löwenstein (28.4.1844 Rhoden/Waldeck - 29.11.1921 Coesfeld)
G: Bertha ∞ Meyerhoff (1867 Coesfeld - 1946 ? Palästina); Ida ∞ Stern, Osnabrück, (23.11.1869 Coesfeld - Ghetto Minsk); Louis (14.3.1870 Coesfeld - Südafrika); Rosalie ∞ Appel, Bonn, (14.1.1872 Coesfeld - ca. 1954 England); Rudolf (12.4.1874 Coesfeld - 7.7.1907); Selma ∞ de Jonge, Weener/Ostfr., (25.10.1877 Coesfeld - 31.10.1952 Kanada); Hermine ∞ Rosenberg (29.9.1879 Coesfeld - 23.2.1955 USA); Albert (24.2.1881 Coesfeld - 21.1.1955 Osnabrück); Sally (12.7.1882 Coesfeld - 12.3.1938 Tschechoslowakei); Frieda ∞ Heilbrunn, Mühlhausen/Thür., (12.2.1886 - 2.1.1970 Peru); Johanna ∞ Waller, Ratingen (29.1.1887 Coesfeld - Belgien); Else ∞ Wreschinsky, Berlin (22.6.1888 Coesfeld - Stuttgart)
Pferdehändler. Wuchs mit zwölf Geschwistern in Coesfeld auf. Der Familienstammbaum läßt sich lt. Familienüberlieferung bis ins 17. Jh. zurückverfolgen. Schulbesuch bis zum 14. Lebensjahr in Coesfeld. Seit dem 1.5.1906 betrieb er eine Pferdehandlung in MS, Wilhelmstr. 2a, die er mit einem Buchhalter, einem Commis und zwei Knechten begann. Baute einen Großhandel in Nutz- und Zuchtpferden im In- und Ausland auf, in den 1920er Jahren kam ein Futtermittel- und Kommissionsbetrieb hinzu. Mitinhaber war sein Bruder Sally. Von 1917 bis mindestens 1926 und 1935 vertrat Hugo H. als Vorstandsmitglied die Interessen der Kultusgemeinde MS. Er hatte Erfolg im Pferdehandel, war sehr vermögend und angesehen und besaß eine außergewöhnliche Begabung: er konnte die Pferdegesichter unterscheiden wie andere die Gesichter von Menschen. Betrieb einen internationalen Handel, u.a. kaufte er Grubenpferde in Rußland ein, versorgte das Militär, lieferte während der Ruhrbesetzung Pferde als Reparationszahlung an Frankreich und bekam Aufträge vom Schah von Persien. Er betätigte sich außerdem im Grundstückshandel. Ein Rückgang des Pferdehandels zeichnete sich mit Beginn des Maschinenzeitalters ab, besonders in der Landwirtschaft. Durch den Bankenkrach Ende der 1920er Jahre erlitt er enorme Verluste. Ihm gehörten landwirtschaftlicher Besitz in Gremmendorf, Mecklenbeck und Lienen (zusammen mit seinem Bruder Sally), außerdem Weiden in Hiltrup und Kleingärten im Geistviertel. Er war Eigentümer von sechs Tennisplätzen in der Nähe des Wasserturms. Wohnte Annenstr. 9, später 13, dort lagen auch große doppelgeschossige Stallungen für Hunderte von Pferden, die über eine Rampe in das obere Stockwerk gelangten. Zwischen 1935 und 1937 erschloß und verkaufte er über 80 Grundstücke im Geistviertel zwischen Geiststraße, Sentmaringer Weg und Prinz-Eugen-Straße. Er unterhielt mit seinem Bruder Albert in Coesfeld ein internationales Kühlfleischunternehmen. Nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen transferierte er zur Unterstützung des Sohnes und um seine eigene Emigration zu ermöglichen, Geld in die Niederlande. Die sich steigernden Schikanen unter dem NS-Regime bedrückten ihn in zunehmendem Maße und verschlimmerten seine Depressionen, unter denen er seit dem Tode des jüngsten Sohnes litt. Als er im Dezember 1936 bzw. im Januar 1937 einen Großteil seiner Wertpapiere verkaufte, wurde sein Konto zur Sicherung der Reichsfluchtsteuer gesperrt. Im Februar 1937 setzte eine Fahndungsaktion der Gestapo ein. Ihm drohten Vermögensbeschlagnahme und Verhaftung, da er zum Wertpapierverkauf keine Genehmigung eingeholt hatte. Als am 24.6.1937 die Gestapo in seinem Haus erschien, um ihn zum Verhör abzuholen, nahm er sich das Leben. Er wurde neben seinem Sohn Harry auf dem jüd. Friedhof in MS bestattet.
∞ 25.4.1906
EHEFRAU
Rosa geb. Frankenberg
9.10.1884 Jena - 17.9.1952 USA
E: Abraham Frankenberg (14.1.1852 Merisfeld/Meiningen - 14.12.1925 MS) u. Regina geb. Hofmann (14.6.1862 Themar/Hildburghausen - 11.1.1933 MS)
G: Bertha ∞ Hertz (22.11.1885 Jena - 11.10.1928 MS); Alfred (* 7.8.1889 Jena)
Tochter eines Vieh- und Pferdehändlers, der von ca. 1882 bis 1918 in Jena ansässig war und seit 1889 mit Moritz Hofmann, vermutlich einem Bruder seiner Frau, die Fa. "Frankenberg & Hofmann" betrieb. Rosa H. wuchs in Jena auf und erhielt eine Schulbildung, wie sie für Töchter gutsituierter Eltern üblich war. Neben Förderung schöngeistiger und musischer Fähigkeiten (Klavierspiel) wurde auf manuelle Betätigung (z.B. Sticken), gutes Benehmen und Kenntnisse in der Haushaltsführung Wert gelegt. Eine Berufsausbildung zum Gelderwerb war um die Jahrhundertwende nicht üblich. Nach ihrer Heirat verzog Rosa H. nach MS zur Annenstr. 9 (1907), dann 13 (1911), und zog vier Kinder groß. Ihre jüngere Schwester Bertha, die den Bruder ihres Mannes, Sally Hertz, geheiratet hatte, lebte seit 1908 ebenfalls in MS. Ihre Eltern zogen ca. 1918 von Jena nach MS, um in der Nähe der Töchter zu sein. In der Hitlerzeit emigrierten die Söhne nach Spanien und Palästina. Ihr jüngster Sohn verstarb 1934 zwei Tage nach seiner Rückkehr aus Spanien. Nachdem es christl. Hausmädchen aufgrund des "Gesetzes zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" ab September 1935 verboten war, für Juden zu arbeiten, bezog die Familie am 31.12.1935 den Neubau Geiststr. 98, der arbeitsmäßig besser zu bewältigen war. Dort erfolgte der Freitod ihres Ehemannes. Nach dem Zwangsverkauf des Hauses Geiststr. 98 am 10.9.1938 wohnte Rosa H. seit dem 28.10.1938 bei der Familie Dr. Alfred Steinberg, Augustastr. 4, und verhalf damit dem unbemittelten Tierarzt zu einem kleinen Nebenverdienst. Im Sommer 1937 hielt sie sich zur Erholung in der Schweiz auf. Bei ihrer Rückkehr nach Deutschland wurde ihr der Paß durch die deutsche Zollbehörde abgenommen. So wurde zum damaligen Zeitpunkt eine Emigration vorerst unmöglich. Ihr Umzugsgut war seit Oktober 1938 bei einem Spediteur in Köln gelagert. Zwischen 1938 und 1940 wurden über 20 Baugrundstücke zwangsweise verkauft. Der Verkaufserlös der Grundstücke mußte auf ein Sperrkonto eingezahlt werden und wurde vom Deutschen Reich nach Zahlung der "Judenvermögensabgabe" und der Reichsfluchtsteuer eingezogen. Mit Hilfe des Sohnes Arthur und der Tochter Lotte konnte sie am 23.2.1939 über die Niederlande in die USA emigrieren. Sie kam im Juni 1939 in New York an. Das Umzugsgut gelangte geplündert dorthin. Sie lebte mit der Familie ihrer Tochter Lotte zunächst in einer Einzimmerwohnung und versorgte den Haushalt. Am 7.12.1944 wurde sie amerikanische Staatsbürgerin. In ihr ehemaliges Eigentum, Geiststr. 98, war 1941 die "Kameradschaft Teutoburg des NSD Studentenbundes, Hochschulgruppe MS" eingezogen.
KINDER
Lotte
* 1.7.1907 MS, lebte 1995 in den USA
Haustochter. Sie wuchs Annenstr. 13 in wirtschaftlich gehobenen Verhältnissen auf. Dem Erziehungsstil der Kaiserzeit entsprechend, wurde sie von Gouvernanten erzogen, genoß eine höhere Schulbildung, erhielt Klavierunterricht und wurde zu stetiger Handarbeit angehalten, was ihr nach ihrer Emigration in die USA zugute kam. Wurde als 15jährige in ein Pensionat in Hannover, anschließend eines in Lausanne/Schweiz gegeben. Danach kehrte sie nach MS zurück, besuchte die Kunstgewerbeschule, belegte Malkurse und fertigte Entwürfe für Kleider, Möbel und Lampen an. Mit 19 Jahren heiratete sie am 4.3.1927 in MS den Kaufmann Siegfried Ostberg (* 11.2.1896 Bocholt), der in Bocholt einen Großhandel in Baumwollabfällen betrieb. Sie verzog mit ihm nach Bocholt, wo der Sohn Heinz am 21.7.1928 geboren wurde. Schwierigkeiten erwuchsen, als die NS-Überwachungsstelle in Bremen für das Geschäft keine Rohware mehr an jüd. Großhändler lieferte. Trotzdem dachte ihr Mann nicht an eine Emigration, da er sich als "Frontkämpfer" geschützt sah, sich für einen Neubeginn in einem fremden Land zu alt fühlte und die Gesundheitskontrollen des amerikanischen Konsulates wegen einer Verletzung fürchtete. Nur vorsichtshalber beantragte er im März 1938 zwecks Auswanderung nach Palästina 1.000 Palästina-Pfund, um dort eine Weberei für Scheuertücher aufzubauen. Sein Vorhaben wurde jedoch abgelehnt, da es nicht "im deutschen volkswirtschaftlichen Interesse" lag (2.5.1938). So ergriff Lotte O. die Initiative, versuchte vergeblich nach Südamerika zu gelangen und bemühte sich um ein Visum für die USA. Sie begann, sich in Berlin durch Kurse in Maniküre und Pediküre, in der Herstellung von Hautcremes, von künstlichen Blumen und im Maschinenstricken auf den Erwerb des Lebensunterhalts im fremden Land vorzubereiten. Den Novemberpogrom 1938 erlebte sie in Bocholt und glaubte anfangs, daß in MS nichts dergleichen passiert wäre. Als sie das Ausmaß der Zerstörung in MS sah, war sie so verängstigt, daß sie zwei Tage in ihrem Auto übernachtete. Nach dem Pogrom wurde ein Entkommen aus Deutschland immer dringlicher, und der ehemalige Buchhalter ihres Vaters riet zur Flucht. Da ihr Grenzgängerausweis in die Niederlande am 10.1.1939 ablief, ging sie kurz vorher mit ihrem Sohn über die Grenze. Ihr Mann folgte illegal am 23.1.1939 nach erfolgloser Vorstellung beim amerikanischen Konsulat in Stuttgart. Kurz vor seiner Ausreise bedachte er arme Bekannte und Verwandte u.a. Dr. Alfred Steinberg und Ruscha Lewenthal noch mit Geldsummen. In den Niederlanden wurde er in einem Lager interniert, bis seine Frau ihn herausholen konnte. Lotte O. konnte aus den Niederlanden vor Ausbruch des Krieges nach New York emigrieren, wo ihre Mutter sich bereits aufhielt. Während ihr Ehemann sich nicht mit der Situation eines sprach-, arbeits- und mittellosen Emigranten abfinden konnte, fand Lotte O. bald eine Hilfsarbeit in einer Hutfabrik. Durch Einfallsreichtum und Risikofreudigkeit baute sie in den folgenden Jahren eine eigene Handschuhfabrikation auf und reüssierte nach manchen Rückschlägen. Von 1962 bis 1977 war sie Mitarbeiterin im Unternehmen ihres Sohnes. Sie lebte 1995 in New York und war, obwohl an den Rollstuhl gefesselt, unternehmungs- und reisefreudig. Von alten Freunden wurde sie "Mutter Courage" genannt. Ihr Sohn Heinz wurde Jurist und war danach als Marktforscher tätig. Er engagierte sich in einer Gesellschaft, die Christen ehrt, die für die Rettung von Juden ihr Leben aufs Spiel setzten.
Erna ∞ ROSENBERG, Adolf
* 7.11.1908 MS, lebte 1995 in den USA
Harry
7.10.1911 MS - 19.5.1934 MS
... [siehe Textzitat oben] ...
Arthur
* 13.11.1912 MS, lebte 1995 in den USA
Kaufmann. Wohnte seit der Geburt Annenstr. 13. War vom Vater für das Bankfach vorgesehen und begann eine Lehre bei seinem Onkel Wreschinsky in Berlin. Da er keine große Neigung zum Geldgeschäft zeigte, machte er eine Ausbildung bei den Ford-Werken in Berlin. Ca. 1933 fuhr er mit einem Besuchsvisum nach Palästina, wohin der Vetter Walter Hertz bereits emigriert war, kehrte nach dem Tod des Bruders 1934 wieder nach MS zurück und betrieb von April 1935 bis ca. 1936 eine Autovermittlung gegen Provision im elterlichen Haus Geiststr. 98. Am 2.2.1937 emigrierte er nach Brasilien, wo der Vetter Fritz Hertz lebte, und fand Arbeit in einer Autofabrik. Als er die Nachricht vom Tod des Vaters erhielt, kehrte er nach Europa zurück, erhielt jedoch keine Einreisegenehmigung nach Deutschland. Er blieb daraufhin ein Jahr ohne Arbeitserlaubnis in den Niederlanden und wurde durch seine Mutter unterstützt, die Wertpapiere verkaufte und den Erlös nach staatlich vorgeschriebenem Kurswert mit erheblichen Verlusten in die Niederlande transferierte. Der Devisennachweis ermöglichte seiner Mutter 1939 die Emigration in die Niederlande und in die USA. Er lernte in Holland seine spätere Frau kennen und wanderte mit ihr in die USA aus. Während des 2. WK wurde er amerikanischer Soldat und kam nach dem Krieg als Besatzungssoldat nach Berlin und Frankfurt/M.. 1995 lebte er in Tacoma, Washington.